Wien,
September 1995
Liebe Freunde!
Ich habe
heute ein besonderes Mitteilungsbedürfnis und möchte
folgendermaßen beginnen:
Was ist eine Ergotherapeutin NICHT?
- eine
Fachkraft für Ergometrie; ( sie hat also nichts mit
Fahrradfahren zu tun)
- eine
Basteltante;
- eine
freundliche Person, die gelangweilten Patienten zur
Abwechslung eine Beschäftigung zukommen läßt;
- ein
Berufsbild ausschließlich für Frauen;
Was ist eine
Ergotherapeutin dann ?
- "Jemand, der
mit einer ärztlich verordneten Ergotherapie betraut ist."
(Duden Fremdwörterbuch 1990)
Korrekt!
Wir bekommen
unsere Patienten von einem Arzt zugewiesen. Mit Diagnosen
wie z.B.:
- Verdacht auf
Wahrnehmungsstörungen (Pädiatrie)
- Schlaganfall
(Neurologie)
- chronische
Polyarthritis (Orthopädie)
-
Schizophrenie (Psychiatrie)
-
Demenz (Geriatie)
Und was geschieht dann?
1.
Wir befunden den Patienten mittels Tests
und Befragungen und stellen damit fest, in welchem Bereich,
sei es jetzt körperlicher, emotionaler oder geistiger Natur,
ein Defizit vorliegt und welche Auswirkungen dieses Defizit
im Alltag eines Patienten hat.
Das Kind mit
Wahrnehmungsstörungen hat Probleme beim Turnen und
beim Schreiben; der Schlaganfallpatient kann sich
nicht waschen, sich nicht anziehen, nicht kochen, eine Notiz
schreiben; die Patientin mit chronischer Polyarthritis
bekommt den Wasserhahn nicht mehr auf, kann Knöpfe nicht
mehr zumachen, eine Nadel nicht mehr einfädeln; der
schizophrene Patient hat Probleme sich zu konzentrieren
und im sozialen Kontakt mit anderer Menschen, er kann sich
in der Realität nicht entsprechend organisieren; der
demente Patient findet sich ebenfalls nicht mehr
zurecht, findet sein Zimmer nicht mehr, weiß nicht mehr, wie
man sich wäscht, wann das Frühstück kommt.
2.
Unter Berücksichtigung der Ressourcen
(das kann unter anderem auch die positive
Lebenseinstellung, die Offenheit und
Kooperationsbereitschaft, tragkräftige Beziehungen zu
Familie und Freunden sein) werden Ziele definiert, die man
global etwa so umschreiben kann: Bestmögliche
Handlungsfähigkeit im Alltag. (Das heißt, mit so wenig
Unterstützung durch andere Menschen bzw. Hilfsmittel wie
möglich bzw. so viel Hilfe wie nötig.)
3.
Und dann kramt die Ergotherapeutin in ihrem Fundus. Da gibt
es : Alltagsaktivitäten, wie sich waschen oder kochen,
Arbeiten mit Keramik, Peddigrohrflechten, Malen, Arbeiten
mit Holz oder Metall, Weben, Kuchenbacken, Sticken,
Lederarbeiten, und es gibt Konzentrationübungen, Spiele
aller Art, Pezziball und Schaukel, Bohnenkiste und
Sensibilitätsblättchen, weiters Handgelenksledermanschette
und Nachtlagerungsschiene. Und all diese vielen Tätigkeiten
und Therapiematerialien kann man unter verschiedenen
Aspekten betrachten, wie: Anforderungen an die Motorik, an
den Kreislauf, an die Sensibilität, an die Wahrnehmung, an
Planungsfähigkeit oder Konzentration, sie können beruhigend
oder anregend, strukturierend oder explorierend,
prophylaktisch oder korrigierend, sein. Sie können helfen,
den Kontakt zu anderen Menschen oder zu eigenen
Seelenanteilen herzustellen und sie werden die bestmögliche
Selbständigkeit im Alltag zum Ziel haben.
Schließlich
wird eine Tätigkeit gefunden, die dem Patienten Spaß macht
und genau die Anforderungen enthält, die der Patient
bewältigen kann und gleichzeitig dort, wo Defizite vorliegen
die erwünschte Veränderung bewirken. Das Kind lernt
auf der Schaukel Informationen über diese Bewegung zu
verarbeiten, der Schlaganfallpatient lernt den
gelähmten Arm sinnvoll beim Waschen miteinzubeziehen und
alle Tricks, die notwendig sind, um sich mit einem gesunden
Arm anzuziehen. Die Polyarthritikerin bekommt einen
Wasserhahn mit langem Hebel, weil das Öffnen weniger Kraft
kostet und die Gelenke schont. Und nachts trägt sie eine
Schiene um die Gelenksdeformitäten hintanzuhalten und sie
lernt bestimte Fingerübungen zu machen, um ihre Kraft zu
erhalten. Der schizophrene Patient findet Kontakt zur
Realität durch klare Vorgabe seiner Arbeit beim Korbflechten
und bei Konzentrationsübungen und er übt in der Gruppe
Kontakte anzuknüpfen und sich abzugrenzen. Der demente
Patient wird von einem Team begleitet, das gemeinsam daran
arbeitet, daß er Vertrauen in eine Realität findet die und
sich sicher fühlt, auch wenn seine Realität nicht unbedingt
mit der unseren übereinstimmt.
Ergotherapie
ist sehr komplex und vielseitig. Und sie ist effizient in
ihrer Wirkung.
Meine
Diplomierung erscheint mir ein erfreulicher Anlaß auf meine
Art und Weise ein wenig Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben
und ich hoffe, daß ich mein Ziel, Euch meinen Beruf ein
wenig näher zu bringen, erreicht habe.
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