Körper
Es war wohl im Herbst 1992, ich befand mich gerade im ersten
Ausbildungsjahr an der damaligen Fachhochschule für Ergotherapie
und wir hatten, unter anderem, Physiologieunterricht. An einem
dieser Herbstabende, es war draußen schon dunkel, lehnte ich im
Döblinger Hallenbad am Beckenrand und betrachtete die
illuminierten Pflanzen vor den großen dunklen Scheiben, hinter
welchen sich die Welt draußen verbarg. In dieser Atmosphäre, die
dem Uterus nicht gänzlich unähnlich war, sah ich,
andeutungsweise, vor mir, was wir gelernt hatten: zahllose
Zellen, deren Membran sich öffnete und schlossen, um Stoffe
aufzunehmen, Chromosomen, an deren Stränge die Zusammensetzung
von Eiweißstoffen abgelesen wurde, Kapillare, durch die die
Erythrozyten hindurch glitten, Muskelzellen, von Aktion und
Myosin verkürzt, um eine Bewegung auszuführen, wobei wieder
zahllose Calziumzellen in die Zelle strömten, das pumpende Herz,
die Alveolen, die sich unter dem Sog der Muskelkraft öffneten,
um Luft inklusive Sauerstoff aufzunehmen. Während ich am
Beckenrand lehnte, sah ich die Aktivitäten als fortwährendes,
komplexes Pulsieren, ein unaufhörliches Geschehen in mir und
hatte erstmals eine Ahnung davon, dass dieser manifeste,
robuste, scheinbar so unveränderliche Körper etwas Organisches,
Veränderliches, in sich Zusammenhängendes war. Der Moment im
Schwimmbad war nur ein kurzer, aber er hat mich wach gemacht für
weitere Bilder dieser Zusammenhänge, wann immer sie in meinem
Leben aufgetaucht sind.
Er hat mich sensibilisiert für Stoffwechselgeschehen im Körper
im Hinblick auf Ernährung, Bewegung, Gefühle und Denken. Er hat
den Boden fruchtbar gemacht für Rolfing, Yoga und Grinbergarbeit.
Gesundheit und Gesunderhaltung als Aspekte meiner Zukunft (und
nicht nur meiner) sind für mich ein Zusammenwirken geworden von
der Art der Bewegung, die ich mache, der Haltung, die ich
einnehme, den Gedanken und den Gefühlen, die meine Haltung
prägen, den Gefühlen und Gedanken, die durch meine Haltung zum
Ausdruck gebracht werden. Je mehr ich über das Gehirn
lese, vor allem im Bereich der Neurobiologie, umso größer wird
mein Staunen über die Wahrnehmung des Körpers, meiner Innenwelt
und der Welt um mich. Gefühle und Gedanken haben immer
weniger abstrakten Charakter indem sie durch Neurotransmitter im PET oder Thermographie
sichtbar werden. Die
Veränderungen, die auf den Körper wirken, treten selten von
heute auf morgen auf, aber Veränderungen, die manifest werden,
haben Grund und Ursache in vielen Komponenten, die man vorher,
zumindest zum Teil beeinflussen kann, wenn man ihrer bewusst ist
und an den richtigen Punkten die Weichen stellt.
Die Verbindung von Körper, Gefühlen und Psyche, die Auswirkungen
auf die Gesundheit, was die Unabhängigkeit von Medikamenten und
Betreuung anbelangt, ist hier ein Aspekt, ein anderer meiner
Sehnsucht nach Entfaltung von Potential und dem Fließen können
frei gesetzter Energie auf welcher Ebene auch immer.
Ich habe im Lauf der Jahre etliches an Alternativmedizin
ausprobiert. Manches hat gewirkt. Fazit meiner Erfahrungen ist,
dass es eines Tages die Möglichkeit geben sollte, eine
Diagnostik zu betreiben, die sich auf die verschiedenen Ebenen
(physiologisch, psychisch, kognitiv, feinstofflich, sozial)
bezieht und abwägt, mit welcher Methode der größte Benefit zu
erzielen ist. Ich halte nichts davon, dass welche Richtung auch
immer sich zu jener aufschwingt, die für alle das Allheilmittel
anbietet. Das ist meines Erachtens einfach nicht möglich. Jede
Richtung hat ihrer großen Erfolge, aber keine ist überall und
immer erfolgreich. Aber jede ist dann erfolgreich, wenn die
Ebene, auf der sie ansetzt, eine Art Hebelpunkt in einem System
bildet, das aus welchen Gründen auch immer, aus dem
Gleichgewicht geraten ist.
Nicht nur das "Wie" beschäftigt mich, denn Wissen und Angebote,
die Gesundheit und Ganzwerdung fördern, sind zahlreich, wie der
Sand am Meer, sondern wesentlich ist für mich, was in mir ist
bereit, diese Wege umzusetzen und was blockiert die
Verwirklichung und was fördert die Motivation, einen Weg zu
beschreiten... . Mangelnde Compliance fühlt sich oft wie ein
Defekt auf der Ebene des Patienten an, wenn ich dies auf der
beruflichen Ebene betrachte, aber wenn ich es aus einer
ganzheitlichen Sicht sehe, zeigt es auf, dass der Hebelpunkt
einfach nicht gefunden wurde. Wir werden wohl nie alle
Möglichkeiten für einen Menschen haben, und immer wieder müssen
wir auch mit dem Ergebnis von Entscheidungen leben, die
Gegenwart umfassend und mehr oder weniger für immer blockieren,
aber wenn alle Wissensrichtungen mehr aufeinander zugehen, dann
kann die Wirklichkeit des Einzelnen in ihrer Komplexität besser
erfasst und angemessener betreut werden.
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